Der große Zerstörer kennt kein Erbarmen

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Tanausú
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Der große Zerstörer kennt kein Erbarmen

Beitrag von Tanausú »

"El Gran Destructor no tiene misericordia"
Opinión-Artikel von Luis León Barreto in El Time vom Sonntag, 28.11.21

Die endlose Bestie hat kein Maß, der schwarze Schorf, so breit und tief, ist eine Wunde die nicht heilt.

Nach La Palma zu reisen ist heutzutage eine komplizierte Angelegenheit. Wir hatten Glück, dass der Hinflug stattfinden konnte, aber seitdem ist der Flughafen tagelang geschlossen, die Leute werden auf Boote nach Los Cristianos gepfercht, dann in Taxis und wenn man Glück hat, in einen Flug von Teneriffa Süd.

Die Asche trübt die Augen, das Brüllen des Vulkans raubt einem den Schlaf, die Luft riecht übel, am frühen Morgen erschreckt einen das Vibrieren der Wände und das Schlimmste ist die Asche, tonnenweise schwarze Asche, die alles bedeckt. Das Ungeheuer scheint zu schwächeln, aber in Wirklichkeit ist es bereit, neue verheerende Lavaströme auszustoßen, es nimmt kein Ende. Es gibt Momente, in denen die Insel eine Geisterstadt ist, niemand auf den Straßen, Restaurants und Bars geschlossen. Die Zerstörung des Tals ist schrecklich, wie kann es wieder aufgebaut werden? Es gibt Freunde, die alles verloren haben, aber bereit sind, neu anzufangen.

Die Menschen beschweren sich über die zahlreichen bürokratischen Hürden und die Schwierigkeiten mit dem Papierkram. Aber wir haben auch Menschen gesehen, die bereit waren, wiedergeboren zu werden, zurückzukehren und wiederaufzubauen. Einige sind der Meinung, dass der Wiederaufbau neue Möglichkeiten bietet, vom Tourismus bis zur Nutzung der natürlichen Ressourcen. Wir wissen aber auch, dass die Stadt Los Llanos de Aridane, die bevölkerungsreichste Stadt der Insel, auf einen Schlag 5000 Einwohner verlieren könnte. Die Menschen beschweren sich über die komplizierten Verfahren, bis die erste Hilfe eintrifft - die grundlegende Hilfe für diejenigen, die nicht mal genug Euro in der Tasche haben, um einkaufen zu gehen oder eine Tasse Kaffee zu trinken.

Noch nie hat dieses Land eine so heftige Krise erlebt: Brände, Pandemien, Vulkane. Und das Schlimmste ist, dass das Drama weitergeht und sich sogar von Tag zu Tag vergrößert: weitere zersörte Hektare, neue Lavaströme, die in ihrem Eifer noch mehr Häuser, Teiche, Gemüsegärten, Straßen und sogar den Friedhof mit mehr als dreitausend Toten und das Krematorium begraben wollen. Es ist ein Inferno, das jeden Tag größer wird, weil immer mehr Lava aus den zahlreichen Schloten austritt. Die Palmeros haben die Hunderte von Millionen Kubikmetern Material bereits nicht mehr gezählt. Die Tage, an denen es noch mehr Beben gab, gehen zu Ende, und das Magma fließt über. Die Experten sagen, dass sie sich abschwächt, aber in Wirklichkeit wächst sie. Der Flughafen ist seit vielen Tagen außer Gefecht gesetzt, mit negativen Auswirkungen auf allen Ebenen.

Der Vulkan, dem niemand einen Namen geben will, übertrifft San Antonio de Fuencaliente (1677) an Dauer. Bislang haben nur zwei historische Vulkane diesen Wert übertroffen: Tigalate (82 Tage im Jahr 1646) und Tehuya (84 Tage im Jahr 1585). Viele auf der Insel glauben, dass er bis kurz vor Weihnachten aktiv bleiben wird und damit auch Tigalate und Tehuya übertreffen würde. Es wäre das beste Weihnachts-Geschenk, wenn es bis dahin aufhören würde.

Heute ist alles schnell, das Leben funktioniert wie eine Abfolge von Lichtblitzen, die so flüchtig sind, dass es uns schwer fällt, unser Interesse an etwas Bestimmtem aufrecht zu halten. Aber mit dem Vulkan ist das Leben ein Röntgenbild, das durch TV Canaria fixiert bleibt - ein beeindruckender Dienst an der Gemeinschaft: sein Einsatz auf dem kleinen Bildschirm und im Morgenradio ist von großem Wert. Die Interviews mit den Experten bringen ebenfalls etwas Licht ins Dunkel, auch wenn ihre Vorhersagen vielleicht nicht so genau sind, wie wir es uns wünschen würden. Dieser Vulkan verblüfft sie und alle, die seiner teuflischen Macht nahe sind.

Nichts wird je wieder so sein wie vorher. Weder die persönlichen Beziehungen, noch das Alltagsleben, noch der Arbeitsmarkt, noch die Wirtschaft. Wirtschaftlicher Ruin und geschlechtsspezifische Gewalt haben zugenommen, ebenso wie psychische Erkrankungen. Wir müssen uns der Situation anpassen, und zwar schnell. Welch ein Sehnen, zur Normalität zurückzukehren - aber was wird die Normalität sein, und vor allem wann?
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https://www.eltime.es/opinion/36755-el- ... ordia.html
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nils.k
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Re: Der große Zerstörer kennt kein Erbarmen

Beitrag von nils.k »

Leider furchtbar, aber klasse Übersetzung von Dir! :gracias:
La paz comienza con una sonrisa.
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Toni
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Re: Der große Zerstörer kennt kein Erbarmen

Beitrag von Toni »

Das Grauen, die Folgen, so treffend beschrieben und analysiert. Mit feinem, poetischen Nachklang. "Welch ein Sehnen zur Normalität zurückzukehren..."
:gracias:
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